Tod vor der Hacke
Bergleute
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Als sie in Schalke ankommen, zweifeln die Neuankömmlinge, ob sie sich noch im Jahr 1895 befinden. Vor ihnen liegt die Zeche Consol, stampfend und schnaubend wie ein riesiges Ungetüm. Unablässig drehen sich Räder, steigen die Förderkörbe auf und ab. Eisenbahnen schleppen unendlich lange Reihen an Kohlewaggons hinter sich her. Und darüber schleudern die Schornsteine Rauch und Flammen in den Himmel. Nichts war hier so wie in ihrer Heimat. Aber deswegen waren sie hier: Hier gab es Arbeit und einen Weg aus der Armut, und der führt nach unten in die Tiefen des Berges. Vorerfahrungen sind nicht notwendig. Gelernt wird auf der Schicht, vor der Kohle. Und wenn genug Geld da ist, soll es ein eigenes Häuschen mit Garten geben. Aber konnte das alles wirklich so schön und einfach sein, wie die Anwerber es daheim in der Kneipe ausgemalt haben?

Die Masuren stammten aus dem über 1.000 Kilometer entfernten Ostpreußen. Heute gehört die Region zu Polen. Etwa 180.000 Masuren kamen ins Ruhrgebiet.

Jetzt müssen sie erstmal ihre Unterkunft, ihr neues Zuhause finden. Die unbefestigten Straßen sind voller Menschen. So ein Gedränge wie hier haben sie noch nie gesehen. Zwischen den zwei-, drei-, vierstöckigen Häusern ist wenig Platz. Schalke ist eng. Auch weil Wohnraum ein knappes Gut ist. Zu viele Menschen, die in zu kurzer Zeit an die Emscher strömen. Die Städte und Ämter werden überrollt von den Entwicklungen. Und sie sind zu klamm, um Wohnungen und Häuser für die Menschen zu bauen. In Schalke springt die Zeche Consolidation ein und stampft rund um ihre Anlagen Wohnhäuser und Siedlungen aus dem Boden. Da, wo noch ein Fitzelchen Platz ist, entstehen um die Anlagen zwei-, drei-, vierstöckige Häuser, ausgestattet mit dem Nötigsten. Ein Waschbecken auf dem Flur, Plumpsklos im Hof. Die Wohnungen sind selten mehr als 60 Quadratmeter groß. In ihnen leben sechs oder mehr Personen.

1858
1867
1875
1880
1885
1890
1895
1900
1905
390
2.058
7.828
9.495
11.857
14.887
18.419
25.452
30.201
Einwohner Die Bevölkerung in Schalke wächst rapide an. Was vorher eine kleine Ansammlung von Bauern und Handwerkern war, wird in wenigen Jahren zu einem riesigen Industriedorf.

Endlich haben sie ihren Schlafplatz gefunden. Sie sind erschöpft und müde nach der langen Reise und von den neuen Eindrücken. Manche von ihnen sind bei Verwandten untergekommen. Sie sind schon länger hier und die wissen, wie es ist “unter der Erde”. Was wird die Neuen am ersten Tag erwarten? Im flackernden Schein einer Kerze hören sie, wie der Förderkorb sie nach unten bringen wird, auf ihre Sohle - also auf ihre Etage im Bergwerk. Von dort aus laufen sie der Strecke mit ihren Schienen entlang, und dann geht es hoch in den Streb. Der Streb ist ihr Ziel, hier hauen sie dann für die Länge der Schicht - acht Stunden - die Kohle. Zum Schluss gehen sie wieder die Strecke zurück zum Förderkorb. Aber sie müssen pünktlich da sein. Denn wer die Seilfahrt verpasst, muss auf die nächste warten. Und das kann eine dreiviertel Stunde dauern.

Am nächsten Morgen stehen sie in einer langen Schlange. Vor ihnen rumpeln unablässig zwei Förderkörbe im Wechsel hinab in die Dunkelheit. Dann sind sie an der Reihe. Nach einer minutenlangen Fahrt spuckt der Aufzug sie wieder aus. Hier unten ist es dunkel und stickig und feucht, fast 30 Grad. Wie die anderen ziehen sie ihre Hemden und Jacken aus. Manch einer bekommt Herzrasen, als ihm klar wird, dass über ihm eine fast kilometerdicke Schicht aus Erde und Gestein liegt. Die Atemzüge werden schwer und kurz. Viel ist da aber nicht, was die Lungen dem stickigen Dunst abringen könnten. Als sie nach einer endlos scheinenden Schicht wieder das Tageslicht erreichen, steigen einige mit zitternden Knien aus dem Förderkorb aus. Am nächsten Tag fehlen ein paar der neuen Gesichter in der Schlange.

KohleflötzBergmannKohle Bruch
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Enge, Hitze, Feuchtigkeit: Nicht alle der Neuankömmlinge kommen mit den schweren Arbeitsbedingungen klar. Auch wenn Bergmänner deutlich mehr verdienen als andere Arbeiter: Viele verlassen den Bergbau sehr schnell wieder.
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Nach der Schicht kommen sie mit ihren neuen Kollegen ins Gespräch. Sie erzählen ihnen von den Gefahren unter Tage. Wie die Kumpel zerquetscht werden, wenn der Streb plötzlich bricht und Berg und Stein auf sie herabregnen. Wie Wasser einbrechen kann und alles mit durch die Tunnel und in die Tiefe reißt. Von Explosionen, die flammend durch die Gänge rasen, wenn irgendwo Gase entzündet werden. Und selbst wenn alles gut gegangen ist, kann selbst auf dem Rückweg nach oben das Drahtseil des Förderkorbs noch reißen. Die größte Angst von allen Bergleuten ist es aber, lebendig begraben zu sein. Alleine tief in der Dunkelheit Stoßgebete in den Felsen zu flüstern und um Rettung zu bitten. So wie vor zehn Jahren, als auf Consol Teile der Morgenschicht bei einer Explosion verschüttet wurden. 56 Kumpel starben an diesem 24. September 1886. Auch sie werden ein letztes Stoßgebet in den Berg geflüstert haben.

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Nicht selten mussten Angehörige nach einer Schicht ihre Väter und Söhne in der Leichenhalle abholen: Der Ruhrbergbau zählte zu den gefährlichsten im Deutschen Reich.
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Die großen Bergbauunglücke ziehen immer weitere Unglücke nach sich. Familien, die ihre Väter verlieren, sind plötzlich auf sich selbst gestellt. Aber auch die schwere Arbeit und die Arbeitsbedingungen fordern ihren Tribut: Mit Mitte 40 sind die meisten von den Bergmännern erschöpft und am Ende ihrer Kräfte. Einfahren können sie nicht mehr. Wer Pech hat, kann seine letzten Jahre - wenn überhaupt - nur noch nach Luft ringend auf dem Bett verbringen. Die Arbeit macht die Lungen kaputt. Kleinste Gesteinspartikel setzen sich in ihr ab, ohne dass die Männer es merken. Erst viel später, wenn zu viel von der Lunge durch die Partikel vernarbt ist, kriegen sie kaum noch Luft. In schweren Fällen ersticken sie sogar an der Krankheit.

LungenarztKohle
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Die Staublunge war eine häufige Erkrankung unter den Bergleuten. Nachweisbar war sie nur durch Röntgenaufnahmen.
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In dieser gefährlichen Welt suchen sie nach Dingen, die ihnen Halt geben. Zum einen ist da die Kameradschaft unter Tage. Jeder hilft hier jedem. Das andere sind Religion und Frömmigkeit, beide haben bei ihnen einen hohen Stellenwert. Angesichts des jederzeit drohenden Unglücks ist eine enge Verbindung zu Gott noch einmal wichtiger. Die Bergleute - egal, woher sie kommen - suchen so oft es geht Beistand in der Friedenskirche am Schalker Markt und der St.-Joseph-Kirche an der Kaiserstraße. Keinen Gottesdienst lassen sie aus. Die Angst vor dem plötzlichen Tod vereint über alle Konfessionen hinweg. Es gibt sogar eine Schutzheilige für die Bergleute: die heilige Barbara. Sie schützt alle, die von einem plötzlichen und schlagartigen Tod bedroht sind. Aber im Ruhrgebiet kennt sie noch keiner. Das ändert sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg.

Der Legende nach konvertierte Barbara heimlich zum Christentum. Als ihr Vater davon erfuhr, enthauptete er sie. Nach vollbrachter Tat fuhr ein Blitz in sein Schwert und tötete ihn ebenfalls.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kommen wieder neue Menschen. Vertriebene aus Oberschlesien hoffen auf Arbeit unter den Schalker Trümmern. Aber nicht nur Schalke, das ganze Land liegt in Trümmern. Um es wieder aufzubauen, werden wieder Männer für den Bergbau gesucht. Der Wohnraum ist knapp. Nur alleinstehende Männer werden angeworben, um die verbliebenen Bergarbeiter aus Schalke und Gelsenkirchen zu unterstützen. Wie die Masuren kommen auch sie nach Schalke, um ihr Glück zu suchen. Die schlesischen Bergarbeiter bringen in ihren Koffern kleine Figürchen oder Bilder von Barbara mit. Die Neuankömmlinge aus Oberschlesien feiern ihre Bräuche. Der 4. Dezember eines jeden Jahres ist Barbara gewidmet. Und ihr Beistand ist auch immer noch nötig. Auch wenn sich die Sicherheitsvorkehrungen und die Ausbildung der Bergleute verbessert haben: Der Beruf des Bergmanns bleibt gefährlich.

In Gelsenkirchen war nach dem Krieg 42 Prozent des Wohnraums unnutzbar.


800.000 Bergleute werden im ersten Jahrzehnt nach dem Krieg neu eingestellt, denn der Ruhrbergbau ist der Motor des Wiederaufbaus. Die Politik unterstützt die Integration der “Neuen” mit verschiedenen Initiativen. Die Religion ist ein wichtiger Fixpunkt. Die Alteingesessenen übernehmen schnell die eingeführten Traditionen ihrer Nachbarn. Gemeinsam feiern sie am 4. Dezember Barbara, oder sie sitzen nebeneinander in den Kirchenbänken bei der Sonntagsmesse. Schnell wird Barbara auch ein fester Bestandteil der Schalker Geschichte.

Heilige Barbara KirchenfensterHeilige Barbara Kirchenfenster
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Mit dem Kirchenfenster, das 1960 eingesetzt wird, zeigt die Gemeinde, was den Stadtteil zu dem gemacht hat, was er ist.
Barbara ist Patronin der Bergleute. Das Schwert in ihren Händen ist ein Zeichen für ihren Tod als Märtyrerin. Der blaue Kreis um ihren Kopf ist ihr Heiligenschein.
Der Förderturm repräsentiert die Zeche Consolidation. Sie ist eng verbunden mit der Kirchengemeinde. Zechen-Gründer Friedrich Grillo ließ die St.-Joseph-Kirche bauen. Der Kelch mit den Hostien ist ein Attribut der Heiligen.
Die beiden Bergleute laufen Richtung Schacht. Auf ihrem Weg und bei der Arbeit auf der Zeche Consolidation wacht die heilige Barbara über sie.
Das blaue Band, das sich durch das untere Fenster zieht, repräsentiert die Emscher. Der Fluss ist die nördliche Grenze des Stadtteils und hat den Landstrich über Jahrhunderte geprägt.
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Schon bald braucht es noch weitere Arbeiter, der Wirtschaftsaufschwung führt zu einem Mangel an Arbeitskräften. Dieses Mal suchen die Anwerber im Mittelmeerraum nach jungen Männern, um sie für zwei Jahre als Gastarbeiter nach Deutschland zu holen. Das Ruhrgebiet wird ein Schwerpunkt. Mit den Menschen aus Marokko, Tunesien und der Türkei findet auch eine neue Religion ihren Platz in Schalke: Der Islam kommt nach Deutschland. Allerdings kommt es nicht zu vielen Kontakten zwischen den “Gastarbeitern” und den Deutschen. Sprachbarriere, religiöse Unterschiede, aber auch der Glaube der Einheimische, dass die jungen Männer in zwei Jahren wieder weg sind, verhindern das. Auch wenn das Zusammenleben über Tage von Hindernissen geprägt ist: Unter Tage kann sich jeder auf den anderen verlassen, egal woher er kommt, egal, zu welchem Gott er betet.

Mit einigen der “Gastarbeiter” kommt der Islam als neue Religion ins Ruhrgebiet. Der Großteil der Arbeitskräfte wird in der Kohlegewinnung eingesetzt.

Und beten werden sie vermutlich alle. Denn nach wie vor ist die Arbeit im Bergwerk gefährlich. Am 16. Februar 1984 bricht ein Streb auf Consol. Die niederfallenden Steine schließen zehn Männer in einer Tiefe von 1.050 Metern ein. Fünf von ihnen können die Rettungskräfte nur noch tot an die Oberfläche zurückholen. Vier der Toten stammen aus der Türkei, das fünfte Opfer ist deutsch. Auch in der Trauer können die Unterschiede nicht überwunden werden. Gab es früher eine gemeinsame Trauerfeier für katholische und evangelische Opfer, ließen sich die religiösen Trennlinien dieses Mal nicht überwinden. Der FC Schalke lässt sich davon nicht beeindrucken: Consol ist seine Zeche, und wer auf Consol einfährt, gehört zur Schalker Familie. Mit einem Benefizspiel sammeln die Knappen Geld für die Hinterbliebenen der Bergleute. Auch Ernst Kuzorra ist an diesem Tag im Stadion, um den fünf Verstorbenen zu gedenken. Er kennt die Welt unter Tage, er kennt die Zeit, in der Masuren und Deutsche sich noch nicht geheuer waren. Und er war dabei, als sich die Gräben durch den Verein langsam schlossen. Und er ist sich sicher: Auch dieses Mal würde es so sein. Es braucht nur Zeit.

Bildquellen: Fotoarchiv Ruhr Museum, Institut für Stadtgeschichte Gelsenkirchen, Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum

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